Hinter Revolte und Reform – Die Tiefe eines Bruchs
Eine Analyse von Stefan Bollinger für ### 7/8 2008
Wogegen 1968 in West wie Ost angetreten wurde, war für die damaligen Akteure klar und teilweise blockübergreifend. Sie wollten mehr Demokratie, die unmittelbare Beteiligung des Bürgers, Studenten, Arbeiters an der Selbstverwaltung der ihn betreffenden Prozesse, solidarische Verteilung, letztlich oft sozialistische Ziele. Sie fanden sich nicht mehr mit Unterdrückung und Ausbeutung, mit Hierarchien und Bevormundungen ab. Entfremdete gesellschaftliche Verhältnisse und zunehmend – im Westen – die Einsicht in eine manipulierende geistige und materielle Bedürfniswelt von Konsum und Massenkultur wurde als Bedrohung empfunden. Nicht zuletzt wurden jene Intellektuellen und künftigen Intellektuellen aktiv, die nun massenhaft gebraucht, nachgefragt, tendenziell proletarisiert wurden.
Dahinter stand ein heute wenig beachteter, obschon grundlegender Bruch gesellschaftlicher Entwicklung. Mit der wissenschaftlich-technischen Revolution stand die Zivilisation am Scheideweg, wie es ÄŒSSR-Sozialwissenschaftler um Radovan Richta formulierten. Nicht nur die eine oder andere technische Neuerung galt es zu meistern, es ging und geht um eine andere Weise des Produzierens, um mögliche neuartige sozialstrukturelle Konstruktionen. Eine Herausforderung, der sich beide Systeme zu stellen hatten und in der für die Prager Wissenschaftler klar schien, „daß die gegenwärtigen Veränderungen in der materiellen Grundlage des menschlichen Lebens (die ‚kybernetische Revolution‘) eine neue Qualität gewinnen, die Grenzen der heutigen Industriezivilisation und die Möglichkeiten des kapitalistischen Industriesystems zu sprengen“. Übrigens sahen das manche der studentischen Akteure im Westen ebenso, wenn sie vom „Aufstand der lebendigen wissenschaftlichen Produktivkraft gegen ihre Fesselung“ sprachen.
Diese Einsichten waren keineswegs Privileg von nur und zuallererst realsozialistischen und marxistischen Akteuren – um so weniger, wenn über den Kreis um die Reformer so konträrer Provenienz wie Walter Ulbricht oder Ota Å ik, ZdenÄ›k Mlynář und Radovan Richta hinausgeblickt wird. Die meisten Ostblockpolitiker fürchteten wie Honecker und Breschnew Veränderungen. Nicht umsonst warnte Ulbricht kurz vor seinem Sturz: „Die wissenschaftlich-technische Revolution hat tiefere, gefährlichere Wirkungen, als wir anfangs einschätzten. Nicht nur die Werktätigen müssen die neuen Aufgaben lernen, die Führung muß lernen. Das gilt es auszuarbeiten, aber nicht darüber zu klagen.“
Die Geschichte des Realsozialismus kann als eine Geschichte der Krisen beschrieben werden – oder als eine der Reformen. Gerade in den hier interessierenden 1960er Jahren erlebten letztere einen Höhepunkt. Sie offenbarten die Krise des stalinistischen Sozialismusmodells, der sowjetischen Großmachtambitionen und des Einigelns in der Systemauseinandersetzung. Nicht zuletzt waren NÖS (Neues Ökonomisches System) oder die Prager Reformen Herausforderungen an Theorie, Ideologie und Lebensweise einer alternativen Gesellschaftsordnung. Wie kann eine sozialistische Gesellschaft funktionieren, wenn sie sozialistisch, solidarisch, gerecht sein will und kann, gleichzeitig aber die ökonomischen Gesetze einer Warenwirtschaft, mehr oder minder noch politisch gefesselt, aber doch umfassend genutzt in den Mittelpunkt rückt?
Die 1960er Jahre brachten dabei die spannendste Periode praktizierten Sozialismus, weil er sich nach der Entstalinisierung bei aller Verschiedenheit und Inkonsequenz bewegte. Die Entscheidung für eine neue Rolle der Wirtschaft, für den Verzicht auf ein rein politisches Umgehen mit der Ökonomie, der Verzicht auf einen umfassenden und starren Plan, ohne die Interessenunterschiede und -widersprüche auszunutzen, eröffnete die Möglichkeit für einen Abschied vom durch Stalin verewigten „Kriegskommunismus“. Technik, Wissenschaft, intelligenzintensive Arbeit waren nur durch neues Wirtschaften – und möglicherweise auch endlich praktizierte Demokratie – zu bekommen. Angesichts der wirtschaftlichen Fortschritte und des nun möglichen Konsums geriet der Osten in Zugzwang. Dabei gelang es dem Westen mit seinen Metropolen in den USA und in Westeuropa, die Richtung und den Umfang der Bedürfnisse zu bestimmen. Per Fernsehschirm und Radiowellen lockte eine bunte Konsumwelt, die auch im Westen keineswegs allen zuteil wurde.
Alsbald geriet der Realsozialismus in eine Konsumismusfalle, die zunehmend auch durch die westliche Politik mit ihren Krediten gegen politisches Wohlverhalten vertieft werden sollte. Das Problem jeder sozialistischen Gesellschaft besteht aber darin, wieviel Konsum – individuell und/oder gesellschaftlich – funktionieren kann. Das Kurzhalten der Bevölkerung, das Vertrösten auf ein bessere Zukunft, so die Erfahrungen der 1950er Jahre, aber nicht zuletzt auch der polnischen Krisen, belegten die geringe Chance für einen asketischen Sozialismus mit einer neuen Lebensweise. Hier wurde die Suche nach dem „neuen Menschen“ und einer neuen Lebensweise akut. Hier konnten eher die Funktionärskinder mit elterlichen Sonderprivilegien, Studenten und Künstler kühne Ideen entwickeln. Die anderen, vor allem die Arbeiter wußten, daß das Sein sehr wohl das Bewußtsein bestimmt und hauten im Zweifel mit der Faust auf den Tisch. Mehr Lohn ja, aber nicht unbedingt Verzicht auf die mit dem Ende des Kapitalismus möglich gewordene Solidarität, die sich oft genug als Gleichmacherei schrieb. Gerade hieraus resultierten die Ersatzreformen in Polen, der DDR oder ÄŒSSR in den 1970er Jahren – nur waren die auf Pump und letztlich ohne die erhofften Freiheiten.
Auch im Westen spürten Theoretiker wie Walt Rostow, Daniel Bell oder Herman Kahn diesen Umbruch und theoretisierten in dieser Zeit über eine nachindustrielle Gesellschaft, in der nicht mehr Tonnen Stahl zählten, sondern wissenschaftlich-technische Leistungen und Lebensstandard. Nur wenige Jahre später reagierte Milton Friedman – zunächst in Gefolge des Putsches in Chile 1973 gegen einen demokratischen Versuch, den Sozialismus auf den Weg zu bringen – mit seiner Antwort auf die neue Runde sozialer Kämpfe und Emanzipationsbewegungen: der Hinwendung zu einem neoliberalen Konzept des Kapitalismus, das die individuelle Befreiung für einen radikalen Marktegoismus nutzen wird. Die Kritik am Kapitalismus, an seiner Macht, seinen Hierarchien, an seiner Entindividualisierung wurde und wird umgekehrt. Der Neoliberalismus ist erfolgreicher als die Linke, die im Westen nie an die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft herankam und die im Osten die Selbstreformierung in Prag wie in Berlin mit der Beendigung des NÖS zerstörte. Spätestens 1968 entschied sich 1989 zugunsten des Kapitals.
Der Politikwissenschaftler und Historiker Stefan Bollinger ist Mitglied der Leibniz-Sozietät und der Historischen Kommission beim PV der Partei Die.Linke. Soeben erschienen ist im Karl Dietz Verlag Berlin sein Buch „1968 – die unverstandene Weichenstellung“
Der Herr Bollinger schreibt:
Zitat: „Alsbald geriet der Realsozialismus in eine Konsumismusfalle, die zunehmend auch durch die westliche Politik mit ihren Krediten gegen politisches Wohlverhalten vertieft werden sollte. Das Problem jeder sozialistischen Gesellschaft besteht aber darin, wieviel Konsum – individuell und/oder gesellschaftlich – funktionieren kann. Das Kurzhalten der Bevölkerung, das Vertrösten auf ein bessere Zukunft, so die Erfahrungen der 1950er Jahre, aber nicht zuletzt auch der polnischen Krisen, belegten die geringe Chance für einen asketischen Sozialismus mit einer neuen Lebensweise. Hier wurde die Suche nach dem “neuen Menschen†und einer neuen Lebensweis akut.“
Den Konsum als Fehlerquelle des Sozialismus zu betrachten ist ebenso einfältig wie falsch. Dies bedeutet letzlich hiermit wird den Menschen in der DDR die Schuld am Untergang des Staates DDR gegeben. Mit anderen Worten: Wäret ihr etwas altruistischer gewesen, etwas asketischer und selbstloser, wozu VW, ein Trabi oder noch besser, ein „Diamant- Fahrrad“ tuts doch auch etc., dann könnte die DDR noch existieren.
Welch geniale Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse.
Grund für den Untergang der DDR war, dass man von Beginn an die Wirtschaft politisiert hat, sie wurde stranguliert von fehlerhaften Planvorgaben, zusammengeschusterten Bilanzen und dem Glauben, dass wenn die Produktionsmittel dem Volk gehören, dies (wissenschaftlich gesetzmäßig) dazu führen muß, dass der Sozialismus dem Kapitalismus auch wirtschaftlich überlegen sein müsse.
Wozu soch ein kleiner Denkfehler führen kann!
Und dieser Denkfehler ist aus den Köpfen immer noch nicht raus. Das zeigt dieser Artikel.
Anstatt sich mit den Grundlagen des Kapitalismus wirklich zu beschäftigen wird hier ein Gedankengebilde aufgebaut, aus dem keiner recht schlau wird.
Freundlichst
F.W.
Herr Weise hat mit
„Anstatt …, aus dem keiner recht schlau wird“
einen klugen Schlußsatz gebildet. Wenn man die Menschen in der damaligen DDR und der jetzigen BRD anschaut so fällt mir -und nicht nur mir- auf, dass heute mehr Menschen auf Gott und die Welt geschimpft als damals.
Unbestritten ist jedoch, dass die Schere zwischen arm und reich in der DDR nicht so groß war. Auch das Zwischenmenschliche und Kollegeale war wesentlich besser als heute. Damals ging es darum Mangelwaren zu beschaffen. Heute geht es darum Geld zu beschaffen. Also das Gelbe vom Ei war es damals nicht und ist es heute nicht.
Was die Wirtschaft angeht. Vor wenigen Jahren wurde in Dresden ein Parkwärterhäuschen durch moderne Technik ersetzt. Der vormalige Parkwächter kam mit der Arbeitslosensituation nicht zurecht und hat sich das Leben genommen. Auch der berühmte DDR-Grenzsoldat, der am 13. August 1961 über den Stacheldraht gesprungen ist, kam mit der neuen aber rauhen Welt nicht zurecht und hat sich ebenfalls das Leben genommen.
Natürlich möchte ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass auch in der DDR viele mit dem System nicht klar kamen und sich das Leben nahmen.
Ob ich im Kapitalismus, im Sozialismus oder in einer Monarchie lebe, ist mir eigentlich egal. Hauptsache ich kann leben und es geht gerecht zu. Und mit gerecht meine ich:
Alle sind vor dem Gesetz gleich! Und nicht, dass die Reichen und Mächtigen vor dem Richter etwas gleicher sind! Und sich ihre Haftzeit in Geld umrubeln lassen können und anschließend die paar Kröten dann aus der Portokasse bezahlen und Basta!
Alles wird gut.
Erhard
Leben damals und heute?
Wirtschaft im Dienste des Lebens und nicht umgedreht. Was mit den Rechten der BürgerInnen passierte und jetzt wieder passiert?
http://blog.buerger.net/archives/47-Die-bayerische-Polizei,-dein-Freund-und-Einbrecher.html
Mit Weglassen, Hinzufügen oder Täuschen, kann jedes rechtsstaatliche Verfahren in die Irre geführt werden. Und wenn es nur ein Verwaltungsakt ist. Die Bundesrepublik ein Irrenhaus? Im StGB nennt mann das beispielsweise Betrug, Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt.
Was erwarten wir von CSU- Politikern für eine Rechtsauffassung, wenn noch nicht einmal aufgeschriebenes Verfassungsrecht akzeptiert wird? „Roll back“ wohin und wieweit zurück?
Mit der jeweiligen Ismusklopferei kommt nicht viel an, weil das Leben unter den einzelnen konkreten politischen Umständen betrachtet werden sollte. Da gibt es immer ein Für und das Wider. Für die Menschen scheint mir der Humanismus der aller beste zu sein.
Hier sind sicher politische Vorlagen der Entwicklungen auf ein sozialsolidarisches Zusammenleben der Menschen miteinander zu diskutieren.
Ich kann das Nehmen, Teilen und Geben am Tisch der Gemeinde nicht nur auf das Abendmal oder ein Erntedank beschränken. Der Altar Globus hat genug Früchte, Mühsal, Muße zum Teilen und Menschen denen mann aus Profitgier den Zugang zu den Früchten verwehrt.
Die sogenannte Wirtschaft macht sich durch Spekulationen selbst zur Hure eines vernichtenden Wettbewerbes in dem Leben meist nur noch in den Botschaften der Werbebranche eine Rolle spielt.
Einen schönen Sonntagsgruß
Th.P.